Die Auflösung von
Ordnungen

In zahlreichen Schriften, Vorträgen und Texten beschäftigte sich Günter Behnisch, während seiner gesamten Schaffenszeit mit dem Begriff der „Ordnung.“ Er distanzierte sich von den klassischen, von Hierarchien dominierten Ordnungsvorstellungen, da sie nicht mehr den „modernen, offenen gesellschaftlichen Strukturen“ entsprächen. Ihm ging es nicht darum, die Dinge „in Ordnung“ zu bringen oder eine stabile Ordnung zu schaffen. Vielmehr wollte er den Dingen, die den Ordnungen innewohnen, zu ihrem Recht verhelfen; sie sollten sich ihrem Wesen entsprechend aus sich heraus entwickeln. Dies war für Günter Behnisch Voraussetzung für eine Gesellschaft freier Individuen entsprechend seiner ideellen Vorstellung einer freien, menschlich gestalteten Welt.

Schon beim Progymnasium in Lorch in den frühen 1970er-Jahren waren die Elemente und Konstruktionen individualisiert, fügten sich jedoch noch zu einem harmonischen Ganzen. Günter Behnisch beschrieb diese Ordnung als „Vielfältigkeit in der Einheit.“ In der weiteren Entwicklung wurden die Bauteile und Elemente immer weiter differenziert, so etwa bei der Zentralbibliothek der Katholischen Universität in Eichstätt oder der Hauptschule in Lorch. Grundrisse, Strukturen und Konstruktionen wurden weiter aufgelöst und frei zu vielschichtigen und komplexen architektonischen Räumen und Systemen überlagert. 

Im formalen Experiment des Hysolar Forschungs- und Institutsgebäudes der Universität Stuttgart erreichte der Prozess der Differenzierung seinen Höhepunkt. Vorgefertigte Container wurden in ein Spiel der Ele-mente – bestehend aus Flächen und Linien – eingefügt, das von jeder konstruktiven Grundstruktur befreit war. Formal scheint es Ähnlichkeiten zum Dekonstruktivismus zu geben. Beim Hysolar besaß der Entwurfsprozess jedoch weiterhin einen analytischen Charakter, der den Ort und die Bauaufgabe berücksichtigt – im Gegensatz zum Dekonstruktivismus, der den Entwurfsprozess als sinnlich, emotional, von Zwängen befreit betrachtet.

„Die Dinge lösen sich auseinander, sie lösen sich aus dominierenden, sie bevormundenden Scheinordnungen, kommen zu sich selbst und als Individuum zum Ganzen.“ 
Günter Behnisch 1977

Zentralbibliothek der Katholischen Universität Eichstätt

Eichstätt
1980-1987
Behnisch & Partner

Der Entwurf ging 1980 als 1. Preis aus einem Wettbewerb hervor, in dem sich Behnisch & Partner gegen eine innerstädtische und stattdessen für eine Lage inmitten der Auenlandschaft der Altmühl entschieden. 

In der freien Landschaft war es möglich, das Gebäude aus seinen eigenen Gesetzmäßigkeiten heraus zu entwickeln, in die Natur einzubetten und die Gebäudearme mit der Umgebung zu verzahnen. Im Kreuzungspunkt von Sichtlinien, Wegebeziehungen und Konstruktionsachsen bildet die dreigeschossige zentrale Halle eine kommunikative Mitte wie auch einen komplexen räumlichen Schwerpunkt. An ihr lagern sich alle wichtigen Funktionen an: Eingang, Vortrags- und Lesesaal, Verwaltungs- und Fakultätsbereich sowie eine Cafeteria. 

In der Planung erhielten das Phänomen Licht und seine tiefere Bedeutung besondere Beachtung. In dem transparenten, lichtdurchfluteten Gebäude findet man unterschiedlichste Lichtqualitäten. Licht- und Schattenspiele unterstützen und unterstreichen die räumliche Vielschichtigkeit und Lebendigkeit.

Projektarchitekten:
Christian Kandzia, Joachim Zürn

„Ich versuche nicht, Gestalt zu setzen, sondern das zu suchen, was da von sich aus zur Welt kommen will. Und ich möchte da nicht zu hart eingreifen.“
Günter Behnisch 1981
„Erscheinungen unseres Alltags haben wir nicht einfach reproduziert. Wir haben uns bemüht, Verborgenes aufzudecken, manches mitklingen zu lassen, was sonst stumm ist, und in den Dingen, die ohnehin erforderlich sind, auch Poetisches zu sehen und sehen zu lassen.“
Günter Behnisch 1990
„Die Möglichkeiten für formale Ordnungen sind tendenziell unbegrenzt. Fortwährend können wir Neues entdecken. Die reinen Künste haben uns das gezeigt: die Ausgewogenheit eines Strohhaufens, die Harmonie einer Müllkippe, die Schönheit des Chaotischen.“
Günter Behnisch 1996

Hysolar Forschungs- und Institutsgebäude der Universität Stuttgart

Stuttgart-Vaihingen
1986-1987
Behnisch & Partner

Für ein deutsch-saudiarabisches Forschungsprojekt wünschte der Bauherr ein besonderes Gebäude als architektonischen Akzent auf dem weitläufigen Universitätsgelände der Universität Stuttgart in Vaihingen – ein kleines Institutsgebäude, in dem umfangreiche Forschungen zur Erzeugung und Nutzung von Wasserstoff durchgeführt werden. 

Eine Reihe von günstigen Faktoren machten ein formales Experiment möglich. Fertige Industrieprodukte: Vorgefertigte Container gruppieren sich – zweigeschossig, versetzt gestapelt – frei um eine Halle. Die Konstruktion folgt keiner hierarchischen Ordnung mehr, jedes Einzelelement ist aus seinem Zusammenhang gelöst und für sich individuell ausgeformt, um dann neu in eine collagenhafte Struktur zusammengefügt zu werden. 

Die Auflösung von formalen Ordnungen ist nicht länger Teilbereichen vorbehalten, sondern scheint sich auf das gesamte Gebäude zu beziehen.

Projektarchitekten:
Frank Stepper, Arnold Ehrhardt

„Es ist nun mal so, daß der rechte Winkel nur eine Möglichkeit von vielen ist, und eine Einschränkung der Möglichkeiten dazu.“
Günter Behnisch 1996
„Das Zwischenchaos ist die Voraussetzung für neue Ordnungen. Und Chaos ist der Zustand, aus dem heraus sich eine neue Ordnung entwickeln kann.“
Günter Behnisch 1995
„Wie gesagt, in jeder Aufgabe sollte sich das Formale entsprechend der Kräftekonstellation der Aufgabe ausbilden und die dieser Situation entsprechende Ordnung finden.“
Günter Behnisch 1996

Kindergarten Lotharstraße

Stuttgart-Luginsland
1987-1990
Behnisch & Partner

Bereits beim Kindergarten in Neugereut kam der Gedanke auf, ein ausrangiertes Neckarschiff zu einem Kindergarten umzubauen. Als Behnisch & Partner 1987 den Direktauftrag für einen Kindergarten im Stadtteil Luginsland erhielten, griffen sie die Idee eines Schiffes wieder auf. Am Rande eines traditionellen Wohngebiets mit Ein- und Mehrfamilienhäusern entstand ein aus Holz gebauter Schiffsrumpf, der scheinbar in den Weinbergen gestrandet ist. 

Ziel war es, eine Kinderwelt – eine Fantasiewelt – zu schaffen als Gegenentwurf zur zweckrationalen Alltagswelt. Die Kinder können eintauchen in eine märchenhafte, fremde Welt des Abenteuers.

„Was will das Schiff in den Weinbergen? Was will der Prinz auf dem Stern, was ein Gnom in der dämmrigen Ecke und die Nixe im klaren, kühlen Wasser? Ein Stück Welt, das uns fehlt in unserem Alltag.“

Günter Behnisch 1990

Projektarchitektin:
Sibylle Käppel-Klieber

„In glücklichen Fällen entsteht so ein wohl ausgewogenes Bündel all dieser wirksamen Kräfte, eine Kräftekonstellation widerspiegelnd, die, in besonders glücklichen Fällen, die Situation des Geistes unserer Zeit widerspiegelt, unsere Realität, in den glücklichsten Fällen aber auch unsere Wünsche, Hoffnungen und Ideale.“
Günter Behnisch 1996
„Ich glaube, daß die Kultur nicht nur eine Reproduktion unserer Mühsale sein sollte, sondern Hoffnungen und Sehnsüchte mit enthalten müsste.“
Günter Behnisch 1977