Bauen für die Gesellschaft
und das Individuum

Ab Anfang der 1970er-Jahre nahmen Bauten für die Gemeinschaft eine außerordentliche Rolle im Werk von Günter Behnisch ein. Zu den zahlreichen Schulen und Sporthallen kamen weitere Projekte, die spezifische architektonische Lösungen für die Bedürfnisse vulnerabler Gruppen erforderten: Kindergärten, Altenheime, Gebäude für kirchliche Einrichtungen wie die Diakonie.

Der Einsatz von Farben und natürlichen Baumaterialien mit erfahrbaren Strukturen und Licht waren dabei von genauso großer Bedeutung wie die Wechselwirkungen zwischen innen und außen sowie die Einbeziehung der Natur. Das Schaffen individueller Räume sollte vor allem die sinnliche Wahrnehmung der Menschen ansprechen und eine individuelle Beziehung zum Gebäude ermöglichen. In die täglichen Abläufe der diversen Nutzer:innen band Behnisch charakteristische Orte ein, die vorrangig dem Wohlbefinden dienen. Neben der Erarbeitung einer situationsspezifischen Lösung legte er besonderen Wert auf die Ausarbeitung von Details. Das führte zur Sichtbarmachung konstruk- tiver Details, vor allem aber zur Betonung von Elemen- ten ohne eine solche Funktion. Wie schon bei früheren Bauten organisierte er alle Bereiche um eine gemein- schaftlich genutzte Mitte.

Günter Behnisch beschreibt rückblickend in seinem Vortrag „Architektur und Individuum“ 1993 in Tallin die ästhetischen Werte bestimmter Situationen als das, wozu der Mensch Beziehungen aufbaut. Er lässt so etwas Atmosphärisches im Erleben seiner Architektur anklingen.

„Alles, was klein, unorganisiert, schwach, individuell ist, sollten wir unterstützen. Auf keinen Fall den ,Apparat’“
Günter Behnisch 1977

Alten- und Pflegeheim

Reutlingen
1971-1977
Behnisch & Partner

Die Planung schließt an ein bestehendes Altenheim aus den 1920er-Jahren an. Bestand und Neubau sind deutlich voneinander abgerückt und lediglich durch verglaste Gänge miteinander verbunden.

Die neuen Gebäudeteile für Pflegeheim und Altenheim erheben sich jeweils auf einem dreieckigen, sich überlagernden Grundriss. Die Wohnbereiche orientieren sich nach Süden und greifen mit ihren Vor- und Rücksprüngen in den angrenzenden Park aus. Durch die starke Gliederung der Fassade verschleiert das Gebäude seine Größe. Die vorspringenden Erkerbereiche der Zimmer mit den sie verbindenden, begrünten Balkonen machen die Lebensbereiche des Einzelnen im Komplex der Gesamtanlage sichtbar.

Im Inneren gruppieren sich die Individualbereiche jeweils um eine gemeinsame Mitte. Durch die großzügige Transparenz der Erdgeschosszone wird der Innenraum mit dem Grünbereich verwoben.

Projektarchitekt:
Dieter Herrmann

„An den architektonischen Gestalten stören uns Uniformität, Rücksichtslosigkeit, Phantasielosigkeit, mangelnde Individualität, Maßlosigkeit, Verschlossenheit ...
Es freuen uns: Individualität, das Maßvolle, Vitalität, Offenheit, das Kleine ...“
Günter Behnisch 1977
„Nicht die Organisation der Masse, sondern das Sichbewußtwerden des Individuums in der Gesellschaft ist unser Ziel. Die Organisation der Masse wird von Staats wegen betrieben. Wir fangen unten, beim Kleinen an und arbeiten uns nach oben durch, in der Hoffnung, dadurch eine innere Ordnung zu finden, die von unten her zu verstehen ist. Manchmal löst sich dabei das Große, in der Architektur die Großform, die große Ordnung etwas auf.“
Günter Behnisch 1977

Kindergarten Pelikanstraße

Stuttgart-Neugereut
1973-1977
Behnisch & Partner

Der Kindergarten in Stuttgart-Neugereut liegt in direkter Nachbarschaft zu massiver Wohnbebauung aus den 1960er- und 1970er-Jahren. Zu dieser steht er in direktem Kontrast: einerseits durch seine eingeschossige Bauweise mit aufliegender Holzkonstruktion, unter der die Räume konstruktionsunabhängig aus nichttragenden Wänden angeordnet sind; andererseits durch die spielerische Verwendung von Materialien und ihrer Detaillierung im Außen- und Innenbereich.

Vieleckige Aufenthaltsräume gruppieren sich um eine zentrale Halle und bilden Nischen sowie Erker aus. Diese kleinteiligen Formen und besonderen Orte schaffen in Verbindung mit der Wirkung des Materials eine Beziehung zu den Kindern, die sich täglich auf unbeschwerte Weise mit der Architektur, die sie umgibt, auseinandersetzen können.

Vom ursprünglich durch das Büro angedachten Umbau eines ausgedienten Neckarschiffs wurde auf Wunsch der Bauherrnschaft abgerückt.

Projektarchitekt:
Christian Kandzia

„Gestalt-setzen? Gestalt-finden? Wir meinen: Gestalt-suchen oder noch weiter: die Aufgabe suchen. Dieser Ansatz erlaubt es uns, alle Teile individuell zu sehen.“
Günter Behnisch 1987
„Vieles von dem, was uns als Kind beeindruckte, wird in der effizienten Welt der Erwachsenen weniger geschätzt. Muss das so sein? Auch dann, wenn wir einen Kindergarten planen?“
Günter Behnisch 1981

Landesgeschäftsstelle des Diakonischen Werkes der Evangelischen Landeskirche Württemberg

Stuttgart
1979-1984
Behnisch & Partner

Auf Grundlage einer bestehenden Vorplanung mit einer bindenden konstruktiven Grundordnung sowie städtebaulichen Vorgaben entwickelte das Büro Behnisch & Partner für die evangelische Landeskirche Württemberg einen Bau für die Verwaltungs- und Konferenznutzung. 

Die Gegensätze aus den einschränkenden Vorgaben und der offenen karitativen Nutzung sollte im Gebäude ablesbar gemacht werden. Deshalb umspielen die einzelnen Gebäudeelemente die konstruktive Struktur und werden sowohl innen als auch nach außen hin durch Aussparungen und hervortretende Körper sichtbar. So stimmen beispielsweise die Raumtrennwände der Büroräume nicht mit den Stützenachsen überein und ermöglichen unterschiedliche Konstellationen. Im Erdgeschoss ist das verglaste Café aus dem Baukörper herausgeschoben. 

Eine Vielzahl von abweichenden Elementen und Prinzipien treten durch Materialwahl und Konstruktion in Erscheinung. Diese kontrastieren das vorgegebene Strukturschema des Gebäudes und lassen das Haus als „offenen Organismus“ erkennbar werden.

Projektarchitekt:
Gerald Staib

„Vorsicht vor äußeren, geometrischen, formalen oder auch technologischen Ordnungen. Das Einzelne ist in seiner Individualität oft am besten daran zu erkennen, daß es nicht voll aufgeht im Ganzen. Scheinbare Ungereimtheiten zeigen dies an.“
Günter Behnisch 1977

Studien- und Ausbildungzentrum der Evangelischen Landeskirche Württemberg

Stuttgart-Birkach
1971-1979
Behnisch & Partner

Das Studien- und Ausbildungszentrum ist ein weiteres Beispiel für Gemeinschaftsbauten im Werk Behnischs. In diesem Falle ist die Mitte nicht geschlossen, sondern wendet sich stärker der Landschaft zu. 

Projektarchitekt:
Carlo Weber